Jo Diercks ist Gründer und Geschäftsführer von CYQUEST, Herausgeber des Buches „Recrutainment“ und Gastdozent an verschiedenen Hochschulen. Am 5. September beleuchtet er auf dem Flügge Kongress für neues Azubimarketing die Frage, wie Berufsorientierung heute aussehen muss und was speziell Selbsttests, Matching-Tools und Eignungsdiagnostik dabei leisten können. „Ich kann was. Aber was?“ lautet der Titel des Vortrags. Der interaktive Flügge Kongress richtet sich an alle neugierigen Recruiter, Personal- und Ausbildungsmarketingexperten sowie Ausbilder, die der Zukunft mal ganz persönlich Hallo sagen wollen.
Herr Diercks, was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie an heutige Schulabgänger denken – was ist anders im Vergleich zu Ihrer Schulzeit?
Ich würde das überschreiben mit „Orientierungslosigkeit“ auf der einen und „Information-Overload“ auf der anderen Seite. Das Gefühl von „Die Welt steht dir offen, du kannst alles werden“ trifft auf „Oh Gott, was werde ich denn!?“, die pure Überforderung. Vielfalt ist ja erst mal gut, aber wenn mich diese Vielfalt erschlägt, kann das zu Resignation führen: Das Buch ist so dick, da schlage ich gar nicht erst die erste Seite auf. Wer sich überfordert fühlt, orientiert sich schnell am Naheliegenden, vielleicht auch an Stereotypen. Ich mach das, was meine große Schwester gemacht hat oder was meine Freunde machen. Oder ich lasse mich von den Stereotypen aus dem Fernsehen leiten, so nach dem Motto: Ich mag den Tatort, dann gehe ich zur Polizei. Wenn das zum Zug kommt, dann werden die gleichen Auswahlfehler gemacht, die schon immer gemacht wurden, obwohl das Bildungsangebot mittlerweile so groß ist wie nie. Die Konsequenz muss eigentlich sein, dass ich meine Interessen mit der Umwelt abgleiche, aber dafür braucht es Hilfestellung, von alleine passiert das nicht. Nur wenn das große Ganze, z.B. in einem Berufswahltest, durch einen Filter läuft, bei dem am Ende genau mein Ding rauskommt, zumindest aber eine deutliche Eingrenzung stattfindet, kann ich mich orientieren. Im Gegensatz zu meiner Generation suchen sich Jugendliche heute auch stärker Unterstützung bei den Eltern und Lehrern. Ich habe zum Beispiel ein super Verhältnis zu meinen Eltern, ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, die zu fragen, was ich denn mal werden könnte. Das ist heute anders… Und das muss Azubimarketing im Hinterkopf behalten.
Bitte vervollständigen Sie folgenden Satz: Ein gutes Azubimarketing kommt in 2018 nicht vorbei an….
…Orientierung auf Augenhöhe und Transparenz! Ich muss als Unternehmen in meinem Azubimarketing für den Jugendlichen die Frage beantworten: Passt die Ausbildung zu mir? Die Zielgruppe muss mein Angebot als Ratschlag und als Hilfestellung empfinden. Das kann ich tun: Einblicke geben, den Vorhang beiseite ziehen, das echte Arbeitsleben zeigen. Die potentiellen Kollegen zeigen, Einblick in die Tätigkeit geben und in das Gebäude, zum Beispiel durch virtuelle Unternehmensrundgänge. Matchingverfahren, die mir helfen zu entscheiden, passt das zu mir. Früher hatte man vorne die Hochglanzbroschüre und hinten die Ungewissheit. Man musste den Job erst mal antreten, um herauszufinden, wie die Unternehmenskultur aussieht. Das Mantra im Employer Branding der letzten Jahre lautete ja „So viel Authentizität wie möglich!“ Die Message ist angekommen und viele Arbeitgeber haben schon ihr Marketing angepasst. Das ist gut für Bewerber!
Schießen wir uns gedanklich in das Jahr 2030: Wie sieht Ihre Zukunftsvision bzw. Ihr Wunsch in Bezug auf die Kommunikation von Unternehmen mit jugendlichen Bewerbern aus?
Zum einen sehe ich, dass die Kommunikation mit der jungen Zielgruppe in einem erheblichen Maße durch künstliche Intelligenz unterstützt werden wird. Dass Algorithmen dabei helfen werden, die Passung zu identifizieren. Tests können zum Beispiel stattfinden auf den Karriereseiten der Unternehmen. Wir haben für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) einen Ausbildungsmatcher entwickelt, der tinderartig die Eignung von Bewerbern checkt. Das spricht an und macht Spaß, eine kurzweilige Entscheidungshilfe. Auch Berufswahl-Plattformen wie Einstieg.com setzen ja schon Orientierungstests ein, die Schüler mit Unternehmen und Hochschulen sowohl online als auch auf den Einstieg Messen matchen. Die Bewerber selber werden aber auch zunehmend Algorithmen für sich arbeiten lassen. Sie werden einmalig einen Test machen und das Ergebnis z.B. auf Bewerberplattformen hinterlegen, so dass die Plattform passende Angebote für sie sucht. „Ich lasse mich finden“ ist eine große Überschrift für 2030. Und vielleicht finden mich dann ja auch Ausbildungswege, auf die ich selber nie gekommen wäre! Der zweite Aspekt meiner Vision ist: Durch eine zunehmende Automatisierung wird vielleicht auch Zeit frei, es wieder ein bisschen mehr menscheln zu lassen. Wir haben zum Beispiel Kunden, die kriegen 70.000 Bewerbungen im Jahr. Wenn mir ein Bot dabei hilft, die Zahl zu reduzieren, so dass ich für die 2.000 offenen Stellen, die ich habe, vielleicht nur noch 4.000 oder 5.000 Bewerber anschauen muss, dann kann ich die freigewordenen Ressourcen nutzen, um mit den übriggebliebenen Kandidaten Veranstaltungen zu machen. Hier kann ich intensiv interagieren und alle näher kennen lernen. Ich kann Tage der offenen Tür machen für diese Interessentengruppe oder Ähnliches. Die Dialektik zwischen Automatismus und Menscheln, das ist das, was ich 2030 sehe.
Vielen Dank für das Gespräch!